Sprachstandsermittlung bei Kindern mit Migrationshintergrund
Sprache ist der Schlüssel zur Bildung – das gilt für alle Menschen. Je früher sich Kinder in der Landessprache ausdrücken können, desto mehr Chancen haben sie auf ihrem persönlichen Schul- und Berufsweg. Tatsächlich sind Kinder, deren Familiensprache nicht Deutsch ist, häufig benachteiligt, wie einschlägige Bildungsstudien seit geraumer Zeit bestätigen. Aber auch Kinder mit Deutsch als Familiensprache, die in einem sprach- und anregungsarmen Umfeld aufwachsen, haben häufig keine guten sprachlichen Voraussetzungen. Sie sind von den Herausforderungen des Unterrichts überfordert und werden in der Folge nachhaltig ausgebremst. Um diesem Missstand Abhilfe zu schaffen, hat die Daimler und Benz Stiftung im Rahmen des Formats „Ladenburger Kolleg“ seit dem Jahr 2014 mit rund 1,4 Millionen Euro die Entwicklung eines validen, verlässlichen und objektiven Verfahrens zur Sprachstandsermittlung für Kinder gefördert, die am Übergang zum Schuleintritt stehen.
Das Verfahren soll pädagogischen Fachkräften ein praxistaugliches Werkzeug zur Verfügung stellen, mit dem sprachförderbedürfige Kinder identifiziert (Zuweisungsdiagnose) und gleichzeitig deren individueller Förderbedarf ermittelt werden kann (Förderdiagnose). Hierzu war umfangreiche Grundlagenforschung zum kindlichen Spracherwerb erforderlich sowie die Entwicklung und wiederholte Erprobung eines Serious-Game*-basierten Verfahrens: Eine App auf einem Tablet zeichnet die spielerisch erhobenen Sprachdaten auf und misst die sprachlichen Kompetenzen mittels eines hochautomatisierten Analyseverfahrens. Bei erkennbaren Defiziten können dann bereits in der Kindertagesstätte zielgenaue Fördermaßnahmen ergriffen werden.
Seinen vorläufigen Abschluss fand das Projekt mit einem Fachkolloquium am 19. und 20. Juni 2023 an der LMU München, dem Hauptantragsteller und Koordinator des Forschungs- und Entwicklungsprojekts. Den 40 geladenen Experten verschiedener Hochschulen und Bildungseinrichtungen wurden Motive, Grundlagen und Ziele des Ansatzes sowie illustrierende Aufnahmen aus authentischen Forschungskontexten präsentiert. Die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten standen zur Diskussion, so dass sich ein intensiver Austausch ergab.
Zu Beginn der Veranstaltung dankte der Projektleiter, Professor Jörg Roche vom Institut für Deutsch als Fremdsprache der LMU München, der Daimler und Benz Stiftung im Namen des gesamten Forschungsteams für die langjährige und großzügige sowie stets verständige und konstruktive Unterstützung, die dieses gesellschaftsrelevante Forschungsprojekt erfahren hat. Projektpartner waren die Universitäten Saarbrücken, Heidelberg, Basel, Mannheim, sowie die LMU München, die Hochschule der Medien Stuttgart und das Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation Frankfurt.
Das Symposium zeigte einmal mehr, wie komplex die Erforschung vermeintlich einfacher Kindersprache ist. Kinder gehen äußerst kreativ, konstruktiv und individuell beim Erwerb und der Nutzung sprachlicher Mittel vor – zumindest, wenn man ihnen relevante und authentische Anlässe bietet. Daran aber, so zeigte sich in den Diskussionen, mangelt es den etablierten Verfahren der Sprachstandsdiagnose. Zudem fehlt es den Einrichtungen an den nötigen Ressourcen und oft auch an hinreichenden fachlichen Kompetenzen, um angemessene Diagnosen durchzuführen. Potenziert werden die Herausforderungen dadurch, dass eine Sprachstandsdiagnose, die in der Öffentlichkeit Akzeptanz finden will, auch konkrete Vorschläge für die anschließend notwendige Förderung der Kinder anbieten muss.
Mit diesem Aspekt beschäftigt sich das Projekt in zweifacher Hinsicht: zum einen durch geplante „präventive“ Maßnahmen der allgemeinen Sprachbildung („early literacy“), zum anderen durch Förderangebote, die sich durch eine gezielte Gestaltung des Sprachangebots auszeichnen. Gleiches gilt auch für ein vom saarländischen Bildungsministerium gefördertes Projekt zur wissenschaftlichen Begleitung sogenannter Sprachkitas, in dem die App erstmals systematisch als Instrument eingesetzt wird. Ziel ist, Erwerbsfortschritte zu dokumentieren, Befunde mit den Sprachkita-Fachberaterinnen und in den Kitas selbst zu diskutieren sowie Förderschwerpunkte abzuleiten.
Große Unterstützung zeigten die Teilnehmer des Fachkolloquiums bei der Forderung nach mehr und vor allem besser koordinierter und konsequenter Umsetzung des aus dem Ladenburger Kolleg hervorgegangenen Diagnoseverfahrens durch die zuständigen Bildungsinstitutionen. Dazu zählt auch die Kombination mit anderen, etwa logopädischen, Erhebungsverfahren. Diese Forderung verdeutlicht zugleich die Notwendigkeit einer umfangreichen und flächendeckenden Sensibilisierung für den Spracherwerb und den Bedarf von Angeboten für die Aus- und Weiterbildung von Erziehern und Lehrkräften inklusive niedrigschwelliger Informationsmaßnahmen für Eltern und das kindliche Umfeld.
Zusammenfassend wurden folgende Notwendigkeiten definiert: geeignete und verfügbare Messverfahren und Fördermaterialien, flächendeckende Maßnahmen zu Schulung, Aus- und Weiterbildung, Sensibilisierung der Öffentlichkeit für Potenziale und Mittel der Sprachbildung sowie eine intensive Informations- und Bildungsarbeit mit den Entscheidungsträgern auf allen Bildungsebenen und in Berufsorganisationen. Die an der LMU München vorhandene Forschungsgemeinschaft ist bereit, ihren Beitrag durch bi- und multilaterale Forschungen voranzutreiben und dafür die vorhandenen Datenpools des Ladenburger Kollegs mit seinen herausragenden Möglichkeiten weiterer Datenerhebungen intensiv zu nutzen – auch in interdisziplinären Projekten der pädagogischen, logopädischen, interkulturellen und motivationspsychologischen Forschung.
*Serious Games:
Der Begriff Serious Games lässt sich als „Spiel mit ernsthaftem (Lern-)Ziel“ übersetzen. Es handelt sich um Spiele, die geschaffen werden, um gezielt bestimmte Inhalte oder Kompetenzen zu vermitteln – vor allem in Kontexten, in denen Spielen und Lernen oft als Gegensätze verstanden wurden und werden."
- Prof. Dr. Jörg Roche, Ludwig-Maximilians-Universität München
- Dr. Nicole Weidinger, Ludwig-Maximilians-Universität München (Koordinatorin)
- Prof. Dr. Heike Behrens, Universität Basel
- Prof. Dr. Stefanie Haberzettl, Universität des Saarlandes
- Prof. Dr. Marcus Hasselhorn, DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (Frankfurt am Main)
- Prof. Dr. Dirk Ifenthaler, Universität Mannheim
- Dr. Gabriele Kecker, TestDaF-Institut (Bochum)
- Prof. Dr. Wolfgang Klein (Initator), Max-Planck-Institut für Psycholinguistik (Nijmegen/Niederlande)
- Prof. Dr. Giulio Pagonis, Universität Heidelberg
- Prof. Dr. Frank Thissen, Hochschule der Medien Stuttgart
- Dr. Wolfgang Woerner, DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (Frankfurt am Main)