E-MailSucheenglishdeutschTwitterYouTubeFacebook

Logo

 

Krisen, Katastrophen, Zeitenwende – Neue Institutionen für eine resiliente Gesellschaft

 

Wie können wir als Gesellschaft mit Krisen und Katastrophen umgehen und wie kann man diesen existenziellen Gefahren präventiv begegnen? Das Thema seines Vortrags stieß auf reges Interesse, doch musste der Soziologe Martin Voss die Erwartungen des zahlreich erschienenen Publikums zunächst etwas dämpfen: „Einer, der sich durchaus schon länger mit Krisen und Katastrophen beschäftigt hat, steht nun vor Ihnen und hat doch nicht die klugen Antworten parat.“ Voss gilt als einer der führenden deutschen Wissenschaftler auf dem Gebiet der Katastrophenforschung und leitet die Krisen- und Katastrophenforschungsstelle an der Freien Universität Berlin.

„Wir verstehen heute den Begriff Krise anders als vor dem Jahr 2020“, konstatierte Voss zu Beginn und verwies dabei auf den Anfang der COVID-19-Pandemie. Zudem erscheinen seit dem Beginn von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine im Februar 2022 Fragen zur Verteidigungsfähigkeit und zum Zivilschutz all jenen, die sich beruflich und professionell in diesem Bereich bewegen, in einem vollkommen anderen Licht, ergänzte Voss. Und schließlich gebe die Veränderung in der gesellschaftlichen Stimmung Anlass zur Sorge.

Auseinanderklaffen von Wissen und Handeln

„Die Krisen der Zeit haben etwas damit zu tun, dass wir nicht tun, was wir wissen“, lautete Voss’ zentrale These. Zwar wisse man sehr viel und verfüge über die technischen und ökonomischen Mittel, um eine bessere Welt zu gestalten, doch bleibe man im Handeln weit hinter diesem Wissen zurück und taumele von Krise zu Krise. Ein Beispiel dafür sei der „Panikmythos“: Vonseiten der Politik werden in einer sich entwickelnden Krise Informationen zurückgehalten, weil man Sorge habe, andernfalls zur Verunsicherung der Bevölkerung und damit zur Entstehung von die Menschen gefährdender Panik beizutragen. Dass Menschen in Katastrophen grundsätzlich panisch reagieren, wurde jedoch seit den 1940er-Jahren in zahlreichen empirischen Untersuchungen zum menschlichen Verhalten in Extremsituationen (Unfälle, Erdbeben, Kriege) klar widerlegt. Vielmehr verhalten sich die meisten Menschen rational und hilfsbereit gegenüber anderen und organisieren sich selbst, um eine Krise zu bewältigen.

Bei tatsächlichen Fällen von Massenpanik wie etwa bei der Love-Parade-Katastrophe 2010 in Duisburg zeige sich, dass jeweils sehr spezifische Bedingungen in die Katastrophe führten, die bis heute sehr gut erforscht und benennbar sind. „Aber es gibt keine Berichte aus westlichen Ländern, bei denen bloße Information oder eine Warnung vor einer möglichen Gefahr zu wirklichem Schaden an Leib und Leben führte“, betonte Voss. Indem man Informationen zurückhalte, trage man aber erst recht zur Verunsicherung der Menschen bei, die gerade in Krisenzeiten sehr nach Information suchen. Eine Folge davon sei das schwindende Vertrauen in die Behörden und ein wachsendes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen.

Die ausdifferenzierte Gesellschaft

Es gebe strukturelle Gründe dafür, warum Menschen nicht das tun, was sie wissen. Voss erläuterte dies anhand der Überlegungen des Soziologen Niklas Luhmann, der die moderne Gesellschaft als aus verschiedenen, voneinander weitgehend autarken Funktionssystemen wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Medien und Recht begriff. Die hier stattfindende Spezialisierung habe Vorteile, so könne etwa mehr produziert oder mehr Information verarbeitet werden. „Wenn aber jeder nur das tut, was er oder sie am besten kann, ohne um sich umherzublicken, dann entstehen über Jahrzehnte Lücken. Wenn man sich keiner alles zusammenhaltenden Moral, keinen Normen und Werten mehr verpflichtet fühlt, dann reißt irgendwann das Netz, das alles zusammenhält.“

Am Beispiel des Panikmythos lasse sich zeigen, dass Wissen nicht direkt zu richtigen oder überhaupt zu Handlungskonsequenzen führe. Mögliche Lösungen müssen in die strukturell bestehenden Systemlogiken der funktional differenzierten Gesellschaft hineinpassen, wohingegen Lösungen, die Strukturveränderungen erfordern, praktisch keine Chance haben. „Der Panikmythos ist essenziell funktional für das Selbstverständnis von staatlichen Institutionen. Er erlaubt ihnen zu entscheiden, was Geheimwissen bleiben muss. Mit dem Argument, dass weitere Informationen die Bevölkerung nur verunsichern würden, kann so schlicht auch staatliches Versagen camoufliert werden“, so Voss.

Die Katastrophe im Blickfeld der Soziologie

Voss verwies auf den Soziologen Lars Clausen, den bis heute einzigen Verfasser einer soziologischen Theorie der Katastrophe. Bei Clausen werde deutlich, dass man mit dem Blick auf Katastrophen leicht Wichtiges übersieht und dann in eine falsche Richtung denkt. Kollektives Scheitern, die Katastrophe also, sei nicht etwa bei Überflutungen den Wassermassen zuzuschreiben, denn die Natur kenne keine Katastrophen. „Die Ursachen für dieses kollektive Scheitern liegen in der Gesellschaft, zum Beispiel darin, dass diese nur auf schnelle Antworten schaut“, unterstrich Voss. So sei etwa die Länder- und Ressortübergreifende Krisenmanagementübung des Bundes (LÜKEX) so angelegt, dass man eher nicht an Grenzen kommt. Doch eine Übung sollte genau das tun, um Schwachstellen zu zeigen. In diesem Abwehrmechanismus, an die Grenze zu gehen, liege für Clausen ein zentrales Motiv, aus dem Katastrophen resultieren, erläuterte Voss: „Die Katastrophe nimmt ihren Lauf, wenn eine Gesellschaft nicht mehr überall sucht, sondern den Rundum-Horizont drohender Gefahren verengt.“

Zu dieser Verengung des Blickwinkels trage bei, was der Soziologe Ulrich Beck in seinem 1986 erschienenen Buch „Risikogesellschaft“ erörterte. Beck zufolge werden moderne Gesellschaften zunehmend durch selbst produzierte Risiken geprägt, die tiefgreifende Auswirkungen auf die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen haben und alles, was man bisher an Gefahren gekannt habe, in den Hintergrund treten lasse. Risiken wie Umweltverschmutzung, Atomunfälle oder der Klimawandel hätten globale Auswirkungen, die sich räumlich und teilweise deutlich zeitlich versetzt bemerkbar machen werden. Anknüpfend an Becks Gedanken, dass die nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichteten politischen Institutionen und Mechanismen nicht ausreichend seien, um mit den globalen Risiken umzugehen, unterstrich Voss die Notwendigkeit, das komplexe Zusammenwirken all dieser krisenhaften Prozesse integriert zu beobachten.

Ein Lösungsvorschlag

Voss skizzierte dies in einem Gedankenspiel: „Ich stelle mir vor, es gäbe ein sehr großes Haus, unter dessen Dach Wissenschaftler aller für krisenhafte Prozesse relevanten Disziplinen, Experten aus der Praxis, Vertreter von NGOs, Vereinen, Initiativen, sozialen Bewegungen, Interessengruppen und Stiftungen an der Lösung systemischer gesellschaftlicher Probleme arbeiten.“ Wichtig sei dabei die dauerhafte Zusammenarbeit und die Ausbildung des eigenen Nachwuchses, der von vornherein disziplinübergreifend denkt. Unter anderem würde man Szenarien entwerfen und zukünftige Entwicklungen modellieren: Wie könnte ein lebenswertes Deutschland im Jahr 2050 aussehen?

Diese Menschen würden all das gemeinsam tun, was bislang in zahllosen verschiedenen Winkeln der Gesellschaft getan, aber nicht zusammengeführt werde. Die Unabhängigkeit von unmittelbaren Konkurrenz- und Verwertungsinteressen des akademischen und ökonomischen Betriebes erlaube den offenen Dialog und öffne den Blick für die tatsächliche Komplexität der Herausforderung. Das alles schaffe Vertrauen – und dieses sei in Zeiten, in denen Vertrauen in Behörden und in alle, die irgendwie im Verdacht stehen, im Staatsauftrag zu handeln, strategisch untergraben werde, von größter Bedeutung. „Könnten also über derartige Impulse von außen aus der Zivilgesellschaft Brücken gebaut werden zwischen den gesellschaftlichen Sphären? Könnte so ein struktureller Wandel hin zu einer resilienteren Gesellschaft eingeleitet werden?“ Mit diesen offenen Fragen schloss Voss seinen Vortrag.

Referent
Dr. Martin Voss studierte Soziologie, Psychologie und Pädagogik und promovierte mit einer philosophisch-soziologischen Arbeit zur Katastrophentheorie. Seit 2011 leitet er an der Freien Universität Berlin die Krisen- und Katastrophenforschungsstelle (KFS). Seine Arbeit umfasst sowohl Grundlagen- als auch praxisorientierte Forschung.
 

Dialog im Museum
24. September 2024
Mercedes-Benz Museum
70372 Stuttgart

Referent:
Prof. Dr. Martin Voss
Leiter der Krisen- und Katastrophenforschungsstelle, Freie Universität Berlin