Online-Treffen am 8. Juni 2020
Das Treffen der aktuellen und ehemaligen Stipendiaten 2020 fand unter ganz besonderen Umständen statt: Aufgrund der COVID-19 Pandemie entschied sich der Verein der Alumni und Stipendiaten erstmals für eine rein virtuelle Zusammenkunft. Aus diesem Grund wurde am 8. Juni ein Vortrag von Dr. Janina Urussowa gestreamt. Rund 30 Alumni und Stipendiaten weltweit nahmen online teil.
In ihrem Vortrag „ALL_INCLUSUVE. Der blaue Ozean des Lebens“ berichtete die Architektin und Kulturwissenschaftlerin Dr. Janina Urussowa über ihre Arbeit als Unternehmensberaterin und wie es ihr gemeinsam mit Firmen unterschiedlicher Branchen sowie Künstlern in den vergangenen Jahren gelang, innovative Produkte für Menschen mit Behinderung zu entwickeln. Urussowa war 1993 eine der ersten Stipendiatinnen der Daimler und Benz Stiftung und wurde für ihre Forschungsarbeit über die „Entwicklung großstädtischer Raum und Zeitkonzeptionen in der russischen Architektur und im russischen Film 1917 bis 1930“ gefördert. Nach beruflichen Stationen im Deutschen Hygiene-Museum und bei der Expo 2000 wechselte sie zu Siemens nach Moskau, wo sie die Abteilung Corporate Communication aufbaute und leitete. „Russland ist für Siemens ein sehr bedeutender Markt, weshalb diese Stelle auch viele Herausforderungen mit sich brachte. Ich versuchte nach Kräften, meine Erfahrungen aus Wissenschaft und Forschung mit den Business-Anforderungen dieser breit aufgestellten Technologiefirma in Einklang zu bringen. Siemens feierte 150 Jahre in Russland und meine Aufgabe war es, ein Bild des Konzerns im Land zu kreieren“, so Urussowa.
Obwohl sie die übernommene Aufgabe sehr gut bewältigte, beschloss Urussowa, ihrem Leben nach einigen Jahren eine neue Wendung zu geben – ein umfassendes down shifting. Mit ihrem Lebenspartner begann sie einen Segeltörn, der beide auf einem alten Fischerboot vom Senegal bis nach Martinique führte. „Da wir allerdings nicht richtig segeln konnten, verfuhren wir uns immer wieder und verbrachten schließlich sechs Wochen auf dem Atlantik. Die Erfahrungen jener Zeit verhalfen mir zu völlig neuen Perspektiven, ich entdeckte eine neue Langsamkeit und fühlte mich dabei schutzlos wie ein Krebs, der sein altes Häuschen verlassen hat, aber noch kein anderes entdecken konnte.“
Nach ihrer Rückkehr in ein frostig turbokapitalistisches Moskau im Dezember des Jahres 2004 stieß Urussowa auf ein Zitat, das ihrer Arbeit künftig als Leitmotiv dienen sollte: „Vulnerability is the birthplace of innovation, creativity and chance“. Das Thema „Einschränkung = Verletzlichkeit“ („Disability = Vulnerability“) betreffe nicht nur einzelne Personen, sondern gleichfalls Institutionen sowie die gesamte Gesellschaft. „Dieses Thema geht uns persönlich an, ebenso unser Business, ebenso unsere Kultur. Zugleich wissen wir nicht, was Behinderung ist, wenn wir darüber sprechen, und das macht uns Angst.“ Werde diese Angst überwunden, eröffneten sich gleichwohl neue Wachstumschancen. Urussowa erläuterte dies anhand des Projektes „Acropolis: How I found my Body“ (2014 bis 2016): Analog zu einer szenischen altgriechischen Götterdarstellung posierten junge Menschen mit Behinderung auf einer Unterlage – herausragend fotografisch interpretiert von russischen Fotografinnen.
Es folgten Modeprojekte etwa auf der Mercedes-Benz Fashion Week Russia gemeinsam mit der British Higher School of Art and Design. Das Re-Branding für eine Zielgruppe mit Handicap sei global betrachtet ein gewaltiger Markt, so Urussowa: Immerhin 1,2 Milliarden Menschen mit einer Kaufkraft von rund 8 Billionen Dollar pro Jahr rückten hier in den Fokus. Zusammen mit Designern, Technikern und Ingenieuren gelang es ihr in den folgenden Jahren, zahlreiche weltweit agierende Konzerne für innovative Anwendungen und Produkte zu gewinnen, von Kleidung bis hin zu Mobilitätskonzepten. „Menschen mit Behinderung müssen innovativ sein, weil die Welt nicht ihren Bedürfnissen entspricht. In gewisser Weise gilt dies für uns alle. Deshalb müssen wir uns gegenseitig dabei helfen, dass wir uns gegenseitig und auch uns selbst als würdig und wertvoll ansehen können.“
Dr. Janina Urussowa
© J. Urussowa