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Wenn ein Schutzengel zum Tyrannen wird: Neue Erkenntnisse der Schmerzforschung

 

Jeder fünfte Europäer leidet zumindest einmal in seinem Leben länger als sechs Monate unter chronischen Schmerzen. Rund zehn Prozent der Weltbevölkerung müssen chronische Schmerzen über sieben Jahre hinweg erdulden und etwa 14 Milliarden Schmerzmittel werden täglich verordnet. „Das Thema Schmerzforschung ist demnach nicht nur aus wissenschaftlicher Perspektive interessant, sondern besitzt eine ausgesprochen große gesellschaftliche Bedeutung“, so Prof. Dr. Rohini Kuner, Direktorin des Pharmakologischen Instituts der Medizinischen Fakultät Heidelberg. Rund 200 Besucher kamen am 24. September zu ihrem Vortrag „Wenn ein Schutzengel zum Tyrannen wird: Neue Erkenntnisse der Schmerzforschung“ ins Mercedes-Benz Museum nach Stuttgart. Der Vortrag fand im Rahmen der Reihe „Dialog im Museum“ statt, die gemeinsam von der Daimler AG, dem Mercedes-Benz Museum und der Daimler und Benz Stiftung organisiert wird.

„Wie wäre es denn eigentlich mit einem Leben völlig ohne Schmerzen, wäre das nicht wunderbar?“, fragte Kuner das Publikum. „Tatsächlich hätten wir dann allerdings eine Krankenakte, die ungefähr so umfangreich wäre wie das Telefonbuch von London. Denn Schmerz ist ein lebenswichtiges protektives Signal, das uns vor Gefahren warnt und vor Verletzungen schützt.“ Schmerz sei ein Phänomen, das sich wie der Protagonist in dem Roman „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ von Robert Louis Stevenson je nach Situation völlig anders verhalte. Für die meisten Menschen sei Schmerz ein lebenslanger Schutzengel, doch er könne auch eine geradezu monströse Form annehmen und das Leben einiger Patienten wie ein Tyrann bestimmen. Auslöser für chronische Schmerzen gebe es zahlreiche: Entzündungsbedingte Schmerzen, wie etwa bei Arthritis, oder Schmerzen durch Traumata und Amputationen. Doch auch Erkrankungen wie Migräne, Diabetes oder Krebs gingen oft mit starken Schmerzen einher. „Starke und chronische Schmerzen werden von vielen Menschen dabei als ein tiefer Eingriff in ihre Persönlichkeit erlebt, als eine Art von Invasion, der sie sich hilflos ausgeliefert fühlen.“

Während in der Antike die Vorstellung verbreitet gewesen sei, dass Schmerz eine von den Göttern gesandte Strafe für Sünde und Fehlverhalten wäre, wandelte sich dieses Bild in der Renaissance grundlegend. René Descartes postulierte erstmals, dass es im menschlichen Körper so etwas wie ins Gehirn führende Schmerzbahnen geben müsse, und Charles Darwin postulierte?, dass Schmerz eine homöstatische arterhaltende Funktion sei, ebenso wie Hunger und Durst.

Viele Patienten sähen sich mit dem Problem konfrontiert, dass ihre Schmerzen oft nicht richtig behandelt würden und eine Odyssee von Arzt zu beginne. Am Beispiel eines fiktiven Kriegsveteranen mit einem verletzten Bein, der auch nach vollständiger Wundheilung extreme Schmerzen empfindet, gab Kuner dem Publikum am Beispiel aneine gleichermaßen rhetorisch versierte wie wissenschaftlich fundierte Übersicht der unterschiedlichen Schmerztypen und deren physiologischen Ursachen . Sie erläuterte, wie bei manchen Verletzungen Immunzellen in das Nervengewebe eindringen und es chronisch verändern könnten, sodass eine Überempfindlichkeit schon gegen einfach Reize eintrete, die dann als chronische Schmerzen empfunden würden. Insbesondere solche Schädigungen, ausgelöst durch Verletzungen des Gewebes, durch Nervenläsionen oder Tumore, führten zu narbenartigen Veränderungen an den Nervenenden und damit zu eine Daueraktivierung, die ein Schmerzgedächtnis entstehen lassen könne. Auch stellte sie dar, über welche speziellen Ionenkanäle solche Schmerzreize ausgelöst werden. Interessanterweise seien viele dieser Ionenkanäle oft auch mit dem Empfinden für extreme Hitze oder Kälte verbunden, sodass es vollkommen korrekt sei, dass manche Betroffene ihre Schmerzen als brennend oder als stechend beschreiben würden.

Eine große Hoffnung liege in der Entwicklung neuer Medikamente, die ganz spezifisch bestimmte Natriumkanäle an den Nervenden blockieren und so zu einer Schmerzverminderung führen, ohne dabei die natürliche Funktionsweise des Organismus, etwa des Herzens oder des Atemzentrums, zu beeinträchtigen. Auch immunologische Therapien, wie der Einsatz spezieller Antikörper, die vor allem bei Entzündungsschmerzen sehr gute Ergebnisse zeigten, seien in naher Zukunft marktreif. Darüber hinaus gebe es im Tierreich noch ein ganzes Arsenal vielversprechender und hochpotenter Nervengifte, wie etwa jenes von Schnecken der Gattung Conus, die über ein extremes Schmerzdämpfungspotenzial verfügen. Auch die Stimulation bestimmter Gehirnareale durch optogenetische Lichtfasern zeige Erfolge.

„Es tut sich derzeit sehr viel in der Forschung, und wir werden in den nächsten Jahren einige ganz neue Schmerzmittel einsetzen können“, berichtete Kuner. „Doch was auch wichtig ist: Heute sehen wir Mediziner die Patienten ganzheitlicher und ergänzen neue, starke Schmerztherapien um Faktoren wie Physiotherapie, Psychotherapie, Kognitive Verhaltenstherapie und soziale Unterstützung im Alltag. Denn diese Faktoren wirken eng zusammen und führen dazu, dass Menschen leichter aus dem Teufelskreis chronischer Schmerzen ausbrechen und den Weg zurück in ein normales Leben finden“, lautete Kuners Resümee.

Referentin
Prof. Rohini Kuner, Ph.D., ist Direktorin des Pharmakologischen Instituts der Medizinischen Fakultät Heidelberg, wo sie den Lehrstuhl für Pharmakologie und Toxikologie innehat. Nach ihrem Bachelorabschluss in pharmazeutischer Technologie an der Universität Bombay promovierte sie an der University of Iowa (USA) und habilitierte sich an der Universität Heidelberg. Für ihre Forschung wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und u. a. als Mitglied der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften, berufen.
 

Dialog im Museum
24. September 2019
Mercedes-Benz Museum
70372 Stuttgart

Referentin:
Prof. Rohini Kuner, Ph.D.
Universität Heidelberg