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Was macht das Internet: gesund, krank – oder etwa nur die Psychiater verrückt?

 

„Jede neue technische Innovation macht uns Angst“, so Dr. Jan Kalbitzer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin und einer der wissenschaftlichen Leiter des Förderprojekts „Internet und seelische Gesundheit“ der Daimler und Benz Stiftung. „Dieses Phänomen zeigte sich in der Vergangenheit immer wieder – und das Internet bildet dabei keine Ausnahme.“ So habe etwa die Erfindung der Taschenuhr oder der ersten Automobile auch unter Experten teilweise heftige Ablehnungsreaktionen und schwere Befürchtungen für die Gesundheit der Nutzer hervorgerufen. Der Verlauf sei dabei über die Jahrzehnte immer derselbe geblieben: Erst verbreite sich eine immense Angst, dann komme es zu Gewöhnungseffekten und schließlich werde die vormals mit so viel Nachdruck geäußerte Besorgnis schlicht wieder verdrängt. Gerade vor dem Hintergrund nicht selten effekthascherischer angeblicher Sachartikel über eine spielsüchtige, in den Weiten des Internets bereits verloren gegangene ganze Generation an Jugendlichen sei es hilfreich, sich dieses wiederkehrende Muster vor Augen zu halten.

„Gerade da wir heute wissen, wie wahnsinnig unzuverlässig psychiatrische Diagnosen eigentlich sind, müssen wir – wenn wir uns aus ärztlicher Sicht der Frage stellen, welche gesundheitlichen Auswirkungen das Internet auf uns hat, vorsichtig und vor allem kritisch gegenüber sogenannten Experten sein“, stellte Kalbitzer fest. Dies lasse sich gut am sogenannten Rosenhan-Experiment erläutern. Dabei hatten sich völlig gesunde Patienten in Kliniken einweisen lassen und behauptet, sie würden Stimmen hören, obwohl sie völlig symptomfrei waren. Bei allen wurde eine falsche Diagnose gestellt und nicht bemerkt, dass es sich um Schauspieler gehandelt habe. In einem zweiten Teil des Experiments behauptete David Rosenhan gegenüber den psychiatrischen Anstalten, er habe Pseudopatienten eingeschleust, was jedoch nicht der Fall war. Trotzdem gaben die Ärzte an, mehrere von ihnen erkannt zu haben.

Dieses Problem mangelnder Gültigkeit bei psychiatrischen Diagnosen betreffe auch die Frage, ob eine Internetsucht vorliege. Im Gegensatz und als Gegenentwurf zu psychiatrischen und psychologischen Modellen, die die Gefahren des Internets in den Vordergrund rücken, gehe es im Förderprojekt der Daimler und Benz Stiftung darum, auch die gesunderhaltenden Elemente der Internetnutzung zu erforschen. „In der Krisenstation der Tagesklinik der Charité führe ich Interviews und frage die Betroffenen, welche Rolle das Internet in der Entwicklung ihrer psychischen Erkrankung spielte“, so Kalbitzer. Ergänzend werden an den Standorten Münster und Paderborn große Populationsstudien mit Internet-Hochintensivnutzern durchgeführt, um auf diese Weise statistische Aussagen treffen zu können. Zusätzlich werden Philosophen mit einbezogen, die den Untersuchungen zugrunde liegende Krankheitsbilder kritisch hinterfragen. Als wichtiges Kriterium dafür, ob eine mögliche Störung vorliege, kristallisiere sich dabei derzeit heraus, dass eben nicht die Zeitdauer der Internetnutzung entscheidend sei, sondern vielmehr, ob die Befragten das Gefühl der eigenverantwortlichen Steuerung oder eines Kontrollverlusts hätten. Auch die Fähigkeit, auf innere und äußere Reize nicht impulshaft zu reagieren, scheine ein vielversprechender Ansatz zu sein. Menschen, die am Anfang einer psychischen Krise stehen, suchen mitunter im Internet reflexhaft ständig nach neuen Nachrichten. „Sie scheinen dabei dem Gefühl zu unterliegen, dass sie so Einfluss auf eine Veränderung ihres Zustandes erreichen können.“

Referent
Dr. Jan Kalbitzer studierte Medizin und Philosophie in Freiburg, Hannover und Haifa und promovierte in Kopenhagen sowie Oxford. Es folgte die Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, anschließend eine wissenschaftliche Tätigkeit an der Charité - Universitätsmedizin Berlin. 2015 erhielt er für seine Forschung zu den Auswirkungen des Internets auf die Psyche den Max Rubner-Preis, seit 2016 ist er einer der Wissenschaftlichen Leiter des Ladenburger Kollegs "Internet und seelische Gesundheit" der Daimler und Benz Stiftung.
 

Dialog im Museum
11. Dezember 2018
Mercedes-Benz Museum
70372 Stuttgart

Referent:
Dr. Jan Kalbitzer
Wissenschaftliche Leiter des Ladenburger Kollegs "Internet und seelische Gesundheit" der Daimler und Benz Stiftung