Mortui vivos docent – Wie Leichenschau und Obduktion Leben retten
Marcel A. Verhoff
„Im Jahr 2000 war fast die Hälfte der rechtsmedizinischen Institute in Deutschland von der Schließung bedroht, ohne dass sich jemand dafür interessierte“, begann Prof. Dr. Marcel A. Verhoff seinen Vortrag über die einst düstere Lage seines Fachgebiets. Die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin habe sich seitdem verstärkt darum bemüht, diese in der Medizin so unverzichtbare Disziplin wieder stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken. So sei die Rechtsmedizin heutzutage in den Medien sehr populär, etwa durch die Figur des Rechtsmediziners Prof. Karl-Friedrich Boerne im ARD-Tatort aus Münster.
Verhoff, der die Professur für Rechtsmedizin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main innehat und als Direktor das Institut für Rechtsmedizin am dortigen Universitätsklinikum leitet, gab mit seinem Vortrag einen tiefen Einblick in sein vielfältiges Fachgebiet, erläuterte insbesondere die Bedeutung von Leichenschauen und Obduktionen für das Verständnis von Krankheitsverläufen sowie Todesursachen und zeigte Perspektiven neuer diagnostischer Methoden wie der molekularen Autopsie auf.
Laut Verhoff werden Rechtsmedizin und Pathologie häufig miteinander verwechselt. Zwar werden in beiden Disziplinen Obduktionen durchgeführt, dies aber aus unterschiedlichen Anlässen: Während die Pathologie vorwiegend klinische Obduktionen zur Aufklärung natürlicher Todesursachen durchführe, sei es die Aufgabe der Rechtsmedizin, nicht-natürliche Todesursachen aufzuklären. Tatsächlich gebe es in der Rechtsmedizin aber viel mehr lebende Patienten als tote, wenn beispielsweise lebende Verletzte untersucht (etwa bei Körperverletzung) oder Vaterschaftstests durchgeführt werden. „Nahezu alle naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die zur Wahrheitsfindung im Rechtsstaat dienen, sind in der Rechtsmedizin beheimatet“, so Verhoff.
Der Rechtsmediziner gab einen Überblick über die verschiedenen Arten von Leichenschauen, beginnend mit der ersten ärztlichen Leichenschau, die in der Bundesrepublik Deutschland jeder approbierte Arzt durchführen darf und bei jedem Verstorbenen vor der Bestattung erfolgen muss. Dabei werde die Leiche von außen untersucht. Wenn ein Leichnam zur Bestattung verbrannt werden soll, werde eine zweite Leichenschau bzw. Feuerbestattungsleichenschau angeordnet, zu der nur spezialisierte Ärzte, etwa Rechtsmediziner, bestellt werden dürfen. Die gerichtliche Leichenschau, zu der ein Rechtsmediziner hinzugeholt werden kann, finde in Anwesenheit eines Staatsanwalts statt: „Dies ist die gesetzliche Grundlage dafür, dass Rechtsmediziner an den Tatort gehen.“
Die erste ärztliche Leichenschau übernehme eine Weichenstellerfunktion, so Verhoff, denn der Arzt stelle dabei fest, ob es sich um einen natürlichen oder nicht-natürlichen Tod handelt oder ob die Todesursache ungeklärt ist. Im Falle der beiden letztgenannten Todesarten müsse eine kriminalpolizeiliche Leichenschau erfolgen, die das sogenannte Todesermittlungsverfahren eröffnet. „Die erste ärztliche Leichenschau ist eine ganz wichtige Aufgabe nicht nur als letzter Dienst für die Verstorbenen, sondern auch für die Lebenden“, betonte Verhoff.
Zu den Obduktionen (auch Sektion genannt), bei der die Leiche geöffnet wird, zähle die gerichtliche Leichenöffnung mit der Besonderheit, dass diese von zwei Ärzten vorgenommen werden muss (Vier-Augen-Prinzip). Die gerichtliche Leichenöffnung als Teil des Todesermittlungsverfahrens sei die ureigene Aufgabe der Rechtsmedizin. Die häufigste Art der Obduktion sollte eigentlich die klinische Sektion sein, bei der zum Zweck der Qualitätssicherung und zur ärztlichen Aus- und Fortbildung eine Obduktion bei einem im Krankenhaus verstorbenen Patienten durchgeführt wird. Dabei solle die Todesursache herausgefunden, diese mit der klinischen Beurteilung der Todesursache abgeglichen und dann geprüft werden, ob man bestmöglich behandelt habe. „Das ist das eigentliche Drama in Deutschland, denn diese klinischen Sektionen gibt es fast nicht mehr“, gab Verhoff zu bedenken. Heute werden Todesursachen teilweise in Mortalitätskonferenzen festgelegt, bei der sich die behandelnden Ärzte auf eine Todesursache einigen: „Dann ist der Fall abgeschlossen.“
Exemplarisch hob Verhoff die Bedeutung der durch die Obduktion gewonnenen Erkenntnisse für die Behandlung von COVID-19-Patienten hervor. Nur durch die Obduktion habe man das Ausmaß der durch COVID-19 verursachten Schäden in der Lunge feststellen können. Weiterhin kamen durch die Obduktion Entzündungen in den Gefäßen wie Thromben und Blutgerinnsel zum Vorschein, die letztlich tödlich waren. Daraufhin setzte man zur Behandlung von COVID-19 auch Gerinnungshemmer ein, was sofort die Überlebensrate steigerte. „Diese einfachen Erkenntnisse, mit denen zuvor keiner gerechnet hatte, waren nur durch die Obduktion möglich“, betonte Verhoff.
Mit einer Reihe von weiteren Beispielen machte der Referent die Bedeutung von Obduktionen für die Lebenden deutlich und ging in diesem Zusammenhang auf die Aufgabe der Rechtsmedizin beim Verdacht eines plötzlichen Herztodes ein – dem plötzlichen Tod aufgrund eines kranken Herzens: „Etwa die Hälfte aller plötzlichen Herztodesfälle treten bei scheinbar gesunden Personen auf.“ Tritt ein plötzlicher Herztod bei jungen Menschen unter 40 Jahren ein, sei die Rechtsmedizin viel häufiger involviert, weil bei einem unerwarteten Tod eines jungen Menschen immer der Verdacht der Tötung im Raum stehen könne. Aus juristischer Sicht sei der Fall eines nicht-natürlichen oder ungeklärten Todes normalerweise dann abgeschlossen, wenn kein sogenanntes Fremdverschulden bestehe. „Die Pflicht des Rechtsstaates ist es zu prüfen, ob diese Fälle verfolgt werden müssen. Die Frage ist, ob es jemanden gibt, der möglicherweise bestraft werden muss“, so Verhoff. Wenn bei der Obduktion eine Todesursache wie Schlaganfall, Herzinfarkt usw. gefunden werde, die einen natürlichen Tod bescheinige, sei der Fall für den Staatsanwalt abgeschlossen, weil kein Fremdverschulden bestehe. Wenn nach Toxikologie und Histologie die Todesursache weiterhin ungeklärt ist, sei die Ermittlungsaufgabe des Staates erledigt.
„Allerdings sind damit die Fälle derjenigen jungen Menschen nicht geklärt, bei denen die Todesursache womöglich auf etwas Erbliches zurückzuführen ist.“ Doch gerade dies sei wichtig herauszufinden, um eventuelle Konsequenzen für die Angehörigen abschätzen zu können. Wenn also Fälle von plötzlichem Herztod vorliegen, also mit ungeklärter Todesursache, und rückblickend in der Familiengeschichte plötzliche Todesfälle bereits auftraten, dann sei es wichtig, bei der Obduktion Gewebe aufzuheben, mit dem genetische Untersuchungen, die sogenannte molekulare Autopsie, möglich sind. Parallel dazu werden die Angehörigen untersucht und es werde gezielt nach Risikogenen für plötzlichen Herztod gesucht. Verhoff wies auf die im Frankfurter Institut für Rechtsmedizin deutschlandweit einzige Ambulanz für plötzlichen Herztod und familiäre Arrhythmiesyndrome hin, in der sich Patienten in Absprache mit der Kardiologie herzgenetisch beraten lassen können.
Die sorgfältige Durchführung der ärztlichen Leichenschau sei die Voraussetzung für das Erkennen von Gefahren für weitere Menschen, resümierte Verhoff abschließend. „Nur mittels Obduktion und ergänzenden Untersuchungen inklusive molekularer Autopsie kann die genaue Todesursache festgestellt werden. Damit können Menschen davor bewahrt werden, dasselbe Schicksal zu erleiden.“
Dialog im Museum
06. Oktober 2022
Mercedes-Benz Museum
70372 Stuttgart
Referent:
Prof. Dr. Marcel A. Verhoff
Goethe-Universität Frankfurt am Main