Mathematik für die Sinne

Jürgen Richter-Gebert
„Das größte Problem der Mathematik ist, dass es ein Schulfach gleichen Namens gibt.“ – Das Publikum stimmte diesem Satz von Prof. Dr. Jürgen Richter-Gebert lachend zu. In seinem Vortrag „Mathematik für die Sinne“ wurde deutlich, mit wie viel Leidenschaft er sich dafür einsetzt, den häufig durch schlechte Erfahrungen aus der Schulzeit herrührenden negativen Ruf seiner Disziplin zu zerstreuen. Richter-Gebert ist Inhaber des Lehrstuhls für Geometrie und Visualisierung an der Technischen Universität München und arbeitet neben seiner Forschung zu Fragen der kombinatorischen und computerorientierten Geometrie an mathematischer Visualisierungssoftware. Für seine kreative und vielfältige Vermittlung von Mathematik an eine breite Öffentlichkeit erhielt er 2021 den Communicator-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Wie gelingt mathematische Wissenschaftskommunikation?
Einen wichtigen Ansatz in der Vermittlung von Mathematik sieht Richter-Gebert in deren Veranschaulichung, denn Mathematik komme einem normalerweise erst einmal mit Formeln entgegen. Hinter diesen Formeln verbergen sich häufig Objekte, die ein Bild im Kopf entstehen lassen. „Die Lösung, wie man die Brücke von den Formeln zu diesen Bildern im Kopf schlägt, geht manchmal ganz konkret über das Figürliche“, betonte er. In der Visualisierung von mathematischen Strukturen gehe es deshalb darum, Dinge sichtbar, anfassbar, fühlbar und hörbar zu machen. Richter-Gebert gab in seinem Vortrag einige Beispiele, wie er dies in der mathematischen Wissenschaftskommunikation umsetzt. Anregungen dazu habe er vor allem durch zwei wichtige Ausstellungen erhalten: die erstmals im Jahr 1984 in Zürich ausgerichtete „Phänomena“ – die erste größere Wissenschafts-Phänomenologie-Ausstellung überhaupt – und die Ausstellung „Symmetrie in Kunst, Natur und Wissenschaft“, die 1986 in Darmstadt stattfand.
Im Rahmen der von Richter-Gebert gegründeten und geleiteten Mathematik-Ausstellung „ix-quadrat“, die seit 2002 am Department of Mathematics an der Technischen Universität München in Garching zu sehen ist, können die Besucher mathematische Zusammenhänge im wahrsten Sinne be-greifen, indem sie etwa in Seminaren selbst Modelle bauen. Dazu werden Materialien aus dem Alltag wie Kleiderbügel, Schaschlikspieße, Pfeifenreiniger, Zungenspatel oder Bleistifte verwendet: „Es ist eine interessante Denkübung, in diesen Materialien zu sehen, an welcher Stelle sie zu spannenden mathematischen Strukturen werden können.“
Mathematik als Wissenschaft der Strukturen
Für viele Leute habe Mathematik immer nur etwas mit Zahlen, Rechnen und Formeln zu tun, aber ihr eigentlicher Kern sei das Nachdenken über strukturelle Effekte. „Diese Strukturen kann man schaffen, man kann sie erkennen und man kann sie analysieren“, so Richter-Gebert. Beim Modellbau gehe es darum, Stellen zu suchen, wo Strukturen interessant aufeinandertreffen. Bei Kleiderbügeln und Ähnlichem kommen dabei zwei Dinge zusammen, einerseits die Symmetrie und andererseits die zyklische Verschränkung.
Zur Erläuterung der Symmetrie zitierte Richter-Gebert eine Definition des Physik-Nobelpreisträgers Richard Feynman: „Symmetrisch ist ein Gebilde dann, wenn man es irgendwie verändern kann und im Ergebnis dasselbe erhält, womit man begonnen hat.“ Häufig führen symmetrische Strukturen wie etwa bei der Schneeflocke dazu, dass etwas als besonders ästhetisch empfunden werde. Die von Leonardo da Vinci auf einem Skizzenblatt festgehaltene, heute unter dem Namen „Leonardo-Brücke“ bekannte Bogenkonstruktion sei ein berühmtes Beispiel für zyklische Verschränkung, denn die Bauteile stützen sich ohne Hinzunahme weiterer Hilfsmittel nur mittels ihrer geschickten Verschränkung.
„Welten hinter Glas“ – mathematische Visualisierungssoftware
Auch Software könne zur Versinnlichung von Mathematik beitragen. „Diese Dinge hinter der Glasscheibe sollten sich idealerweise so anfühlen, wie es echte oder auch abstrakte Objekte tun“, so der Mathematiker. Die Mission bzw. die Vision von Visualisierungssoftware sei es, Grundlagen zu schaffen, um abstrakte Zusammenhänge phänomenologisch erfahrbar zu machen. In diesem Zusammenhang stellte Richter-Gebert die App „TUM interaktiv“ vor, die von ihm zum 2018 begangenen 150-jährigen Jubiläum der Technischen Universität München entwickelt wurde. Sie bietet Animationen, Simulationen und Experimentierfelder zu zentralen Wissenschaftsthemen aller 14 Fakultäten der TUM. Außerdem kann der Benutzer der App in kleinen abgegrenzten Spielräumen, den Mikrolaboratorien, selbst zum Forscher werden.
Am Beispiel der mathematischen Katastrophentheorie zeigte Richter-Gebert, wie sich mithilfe von Software abstrakte Prozesse visualisieren lassen. „Eine mathematische Katastrophe ist folgender Effekt: In einem dynamischen System wird ein Parameter kontinuierlich geändert – und plötzlich kippt das System in einen komplett anderen Zustand.“ Dies erläuterte er anhand der von dem britischen Mathematiker Erik Christopher Zeeman konstruierten Katastrophenmaschine: einer Drehscheibe, deren Achse in eine Grundfläche eingelassen ist und die sich über zwei auf der Grundfläche gespannte und auf der Drehscheibe zusammentreffende Gummibänder bewegen lässt. Dieses von Zeeman konstruierte „minimale Spielfeld, mit dem man sich Katastrophen anschauen kann“, übertrug Richter-Gebert in eine virtuelle Version, anhand derer sich die hinter diesem Effekt stehende physikalische Gesetzmäßigkeit anschaulich simulieren lässt.
„Zwischen digital und real“
Dort, wo reales Leben und Software zusammenkommen, siedelte Richter-Gebert die von ihm entwickelte Zeichenapp „iOrnament“ an, zu der er durch die auf der Darmstädter Symmetrie-Ausstellung gezeigten Jugendstil-Ornamente angeregt wurde. Als symmetrische Muster, bei denen es Verschiebesymmetrien in mindestens zwei Richtungen gibt und die dadurch die ganze Ebene ausfüllen können, lassen sich anhand von Ornamenten mathematische Strukturen kreativ studieren. Diese Verbindung von Kunst und Mathematik wird in der App hergestellt, mit der sich geometrische Muster nach eigenen Vorstellungen entwerfen lassen.
Abschließend gab Richter-Gebert einen Einblick in die von ihm co-kuratierte Ausstellung „La La Lab. Die Mathematik der Musik“, die von 2019 bis 2021 in Heidelberg gezeigt wurde. Themen wie Rhythmus, Skalen, Dissonanzen, Harmonik und Frequenzspektren wurden in den interaktiven Exponaten visuell aufbereitet, sodass die Verbindungen und Gemeinsamkeiten der Bereiche Mathematik und Musik durch das eigene Experimentieren erfahren werden konnten.
Dialog im Museum
29. Februar 2024
Mercedes-Benz Museum
70372 Stuttgart
Referent:
Prof. Dr. Jürgen Richter-Gebert
Lehrstuhl für Geometrie und Visualisierung
Technische Universität München.