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Das Erwachen des Geistes – eine neue Sicht auf die Menschwerdung

 

„Um eine Vorstellung zu erhalten, über welchen Zeitraum wir bei diesem komplexen Thema sprechen, gehen Sie von einer Zeitskala von rund sieben Millionen Jahren aus“, eröffnete Dr. Miriam Haidle ihren Vortrag über die Entwicklung des menschlichen Geistes. „Am Anfang stehen die letzten gemeinsamen Vorfahren, die der Mensch mit den Menschenaffen hatte und am Ende stehen wir, Homo sapiens, der moderne Mensch“. Doch sei es bei einer solchen, weit in die Vergangenheit reichenden Darstellung wichtig, auf die begrenzte Datenlage hinzuweisen, gab Haidle zu bedenken. Selbst wenn sämtliche Erkenntnisse aus Funden wie Faustkeilen, Knochen und Versteinerungen, historischen Klimadaten und genetischen Untersuchungen zusammengenommen würden, gleiche dies der Interpretation eines 1000-Teile- Puzzles, von dem allenfalls 50 bekannt seien.

Wenn man das aktuelle paläoanthropologische Modell menschlicher Kognition betrachte, zeige sich die Entwicklung geistiger Fähigkeiten als integraler Teil der physischen Evolution, also etwa der Hand, verbunden mit sprachlichen und sozialen Fähigkeiten. Einfacher Werkzeuggebrauch zeige sich bereits bei Schimpansen, die mit einem Hammerstein Kolanüsse aufschlagen können. Eine bedeutende Änderung des Verhaltens zeige sich vor rund 3,3 Millionen, als besondere menschliche Werkzeuge auftauchten. Erstmals wurden nun Werkzeuge genutzt, um andere Werkzeuge wie Faustkeile oder Schaber herzustellen. „Hierfür ist eine modulare Abfolge von Handlungen sowie Materialbeschaffung notwendig, die es zuvor nicht gab“, erläuterte Haidle. Ein besonders anschauliches Beispiel für die Dynamik dieser Entwicklung sowie der Wechselwirkung von menschlichem Planungshandeln und seiner Umwelt gäben die Schöninger Speere mit einem Alter von ca. 300.000 Jahren. Frühe Menschen stellten diese Speere aus Fichtenholz zur Pferdejagd her. „Für die Herstellung benötigte man detaillierte Kenntnisse über die Wuchseigenschaften von Holz, Verbundstoffe wie Klebeharze und vieles andere mehr. Die verschiedenen Materialien mussten über Wochen zusammengetragen und kombiniert werden. Es bedurfte ebenfalls großer handwerklicher Fähigkeiten, um eine solche Waffe, die es in ihren Flugeigenschaften mit modernen Wettkampfspeeren aufnehmen kann, anzufertigen.“

Die historisch jüngste Entwicklungsstufe in der Menschwerdung, die sogenannte „ideelle“, beinhaltete die Herstellung von Kunstobjekten, Musikinstrumenten und Malerei. Diese sei gesichert für den modernen Homo Sapiens, doch in 2018 wurden neue Forschungsergebnisse publiziert, die vergleichbare Kunstfähigkeiten und symbolisches Handeln auch für den Neandertaler als wahrscheinlich gelten lassen. „Das hat eine kontroverse Diskussion in der Wissenschaft entfacht, denn die abstrakten Kunstwerke aus der spanischen La-Pasiega-Höhle lassen sich auf mindestens 65.000 Jahre datieren – somit eine Zeit, zu der Homo sapiens in Europa noch nicht existierte.“ Auch zu Schmuck verarbeitete Adlerklauen mit einem Alter von etwa 130.000 Jahren oder vergleichbar alte durchlochte und gefärbte Muschelschalen lassen vermuten, dass der Neandertaler Schmuck herstellte und sich künstlerisch Ausdruck verlieh.

Im Zentrum der heutigen kognitiven Entwicklung des Menschen sieht Haidle die immer engere und ausdifferenzierte Verzahnung von sozialer Interaktion und neuen Technologien. „Die Komplexität unserer gesellschaftlichen Struktur wird weiter zunehmen und ist dabei untrennbar verflochten sein mit neu aufkommenden technischen Entwicklungen – so wie es auch in der Vergangenheit der Fall war.“

Referentin
Priv.-Doz. Dr. Miriam Haidle studierte u.a. die Fächer Ur- und Frühgeschichte sowie Geologie, promovierte in Urgeschichte und habilitierte sich über den Werkzeuggebrauch sowie Problemlösungsansätze bei Menschen und Tieren. Sie ist Koordinatorin des Forschungsprojektes „The Role of Culture in Early Expansions of Human“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.Für ihre wissenschaftliche Arbeit wurde sie mit mehreren Preisen und Stipendien ausgezeichnet. Derzeit forscht Sie am Senckenberg Naturmuseum Frankfurt sowie an der Universität Tübingen.
 

Dialog im Museum
28. Februar 2019
Mercedes-Benz Museum
70372 Stuttgart

Referentin:
PD Dr. Miriam Haidle
Senckenberg Naturmuseum Frankfurt
Universität Tübingen