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Gesundheit oder Glaubhaftigkeit? Ist die Wahl zwischen psychischer Gesundheit und der Wahrung der Glaubhaftigkeit einer Aussage vor Gericht zwingend?

 

Wer Opfer einer Gewalt- oder Sexualstraftat wurde, braucht oft psychotherapeutische Unterstützung – etwa zur Behandlung einer posttraumatischen Belastungsstörung. Ein laufendes oder bevorstehendes Strafverfahren kann die Aufnahme einer Therapie jedoch problematisch erscheinen lassen. Denn die gedächtnispsychologische Forschung der letzten Jahrzehnte zeigt: Erinnerungen sind nicht stabil und objektiv, sondern fehleranfällig, formbar und veränderbar. Durch nachträgliche Informationen können etwa Verzerrungen entstehen oder gar Scheinerinnerungen an nie erlebte Ereignisse.

Im psychotherapeutischen Setting bestehen in diesem Zusammenhang spezifische Risiken: Therapeuten gelten als glaubwürdige Autoritäten. Patienten suchen häufig nach Erklärungen für ihre Symptome, was einen subtilen Druck auf Behandelnde ausüben kann, solche Erklärungen auch zu liefern. So wurden in der Vergangenheit Fälle dokumentiert, in denen suggestive therapeutische Vorgehensweisen mutmaßlich zu falschen Erinnerungen führten – etwa an sexuellen Missbrauch in der Kindheit.

Daher wird Psychotherapie im Kontext strafrechtlicher Ermittlungen – insbesondere in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen – mitunter kritisch bewertet. Betroffene und Therapeuten sehen sich hier mit einem Dilemma konfrontiert: Sollen sie entweder eine dringend notwendige Behandlung aufnehmen oder die Glaubhaftigkeit der Aussage vor Gericht schützen? Die Skepsis gegenüber der Psychotherapie hält sich weiterhin, obwohl erste Studien zeigen, dass fachgerecht durchgeführte und evidenzbasierte traumafokussierte Verfahren keine Verzerrung von Erinnerungen hervorrufen. Die Risiken scheinen vielmehr in nicht leitliniengerechten und suggestiven Interventionen zu liegen und nicht in lege artis durchgeführten traumakonfrontativen Methoden.

Ein angemessener Umgang mit dieser komplexen Situation ist bislang nicht etabliert. Erschwerend kommt hinzu, dass verschiedene Berufsgruppen – von Therapeuten über juristische Akteure bis hin zu Gutachtern – auch unterschiedlich vom sogenannten traumatherapeutischen Dilemma betroffen sind und teils divergierende Annahmen und Wissensstände in die Bewertung einbringen.

Unter der wissenschaftlichen Leitung von Dr. Larissa Wolkenstein, LMU München, diskutierten im Ladenburger Diskurs „Gesundheit oder Glaubhaftigkeit? Ist die Wahl zwischen psychischer Gesundheit und der Wahrung der Glaubhaftigkeit einer Aussage vor Gericht zwingend?“ Vertreter aus Psychotherapie, Rechtspsychologie, Rechtswissenschaft, Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft, Opferschutz und berufspolitischen Organisationen über das Spannungsfeld zwischen Psychotherapie und der juristischen Verwertbarkeit von Aussagen bei vermuteten traumatischen Erlebnissen. Ziel war es, die Spannungen zwischen professioneller psychotherapeutischer Begleitung von Gewaltopfern und den strafrechtlichen Anforderungen an Beweisführung, Aussagekonsistenz und Glaubhaftigkeit sichtbar zu machen – und gemeinsam konkrete und realistische Lösungsansätze für Praxis sowie Aus- und Weiterbildung zu entwickeln, um die Situation für Betroffene zu verbessern.

Die Diskussionen machten deutlich: Psychotherapie kann und sollte auch vor oder während eines Strafverfahrens stattfinden – vorausgesetzt, sie erfolgt fachgerecht und evidenzbasiert. Um mögliche negative Auswirkungen auf strafrechtliche Verfahren zu vermeiden, braucht es allerdings klare Standards, interdisziplinäres Verständnis sowie spezifische Dokumentations- und Kommunikationsformen.

Eine nachhaltige Professionalisierung an dieser sensiblen Schnittstelle erfordert gemeinsame Standards, mehr Transparenz zwischen den Disziplinen sowie eine intensivere öffentliche und fachpolitische Auseinandersetzung. In vertiefenden Workshops wurden konkrete Maßnahmen und Projekte entwickelt, um Fachgruppen für die Problematik zu sensibilisieren (z. B. disziplinspezifische Empfehlungen, Bewertungs- und Dokumentationsstandards) und den systematischen Wissenstransfer zu verbessern. Auch Anpassungen in Aus- und Weiterbildung wurden diskutiert.

Der Ladenburger Diskurs stellte einen vielversprechenden Auftakt für den interdisziplinären Austausch zum traumatherapeutischen Dilemma dar. Bereits während der Veranstaltung bildeten sich mehrere Untergruppen, die an spezifischen Vorhaben weiterarbeiten – unter anderem zur Identifikation und Beschreibung risikobehafteter Therapiesituationen sowie zur Entwicklung praxisorientierter Empfehlungen. Darüber hinaus ist die Gründung einer interdisziplinären Arbeitsgruppe in Planung, die den begonnenen Austausch langfristig strukturell fortführen soll. Ziel ist es, zentrale Themenfelder weiter zu bearbeiten, gemeinsame Forschungsprojekte anzustoßen und den Aufbau einer digitalen Plattform zur Vernetzung, Information und Ergebnissicherung zu koordinieren.

 
Wissenschaftliche Leitung
  • Dr. Larissa Wolkenstein, Department Psychologie, LMU München
Beteiligte Wissenschaftler
  • Milena Aleksic, LMU München, Klinische Psychologie und Psychotherapie
  • Dr. Jan Christoph Bublitz, Universität Hamburg, Fakultät für Rechtswissenschaft
  • Prof. Dr. Thomas Ehring, LMU München, Klinische Psychologie und Psychotherapie
  • Prof. Dr. Lutz H. Gade, Universität Heidelberg, Anorganisch-Chemisches Institut
  • Dr. Astrid Helling-Bakki, World Childhood Foundation Deutschland
  • Otto Heyder, Generalstaatsanwaltschaft Bamberg
  • Julia Hiller, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Referat AS2 Prävention, Intervention und Hilfen, Forschung
  • Markus Hoga, Bayerische Polizei, Zentraler Psychologischer Dienst
  • Alexander Horn, Polizeipräsidium München, Kriminalfachdezernat 1
  • Prof. Dr. Birgit Kleim, Universität Zürich, Experimentelle Psychopathologie und Psychotherapie, Schweiz
  • Dr. Jörg Klein, Daimler und Benz Stiftung
  • Sabine Maur, Bundespsychotherapeutenkammer
  • Prof. Dr. Aileen Oeberst, Universität Potsdam, Sozialpsychologie
  • Prof. Dr. Michaela Pfundmair, Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Verfassungsschutz - Nachrichtendienstpsychologie
  • Alexander Reineck, LMU München, Klinische Psychologie und Psychotherapie
  • Dr. Jonas Schemmel, Fernuniversität Hagen, Persönlichkeits-, Rechtspsychologie & Diagnostik
  • Dr. Marion Schowalter, Universitätsklinikum Würzburg, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
  • Prof. Dr. Renate Volbert, Psychologische Hochschule Berlin, Rechtspsychologie
  • Nadine Weiß, Polizeipräsidium Unterfranken
  • Prof. Dr. Bettina Weißer, Universität Köln, Rechtswissenschaftliche Fakultät
  • Dr. Larissa Wolkenstein, LMU München, Klinische Psychologie und Psychotherapie