Verkleiden – Mode und Geschlechtergrenzen

Barbara Vinken
„Die Mode queert.“ Ausgehend von ihrer eigenen Kindheit und Jugend, von der sie humorvoll als modischem Spannungsfeld zwischen „Fußball und Glitzer-Tutu“ berichtete, erläuterte Prof. Dr. Barbara Vinken das Prinzip des Cross-Dressing. Dies verstehe sie nicht als ein individuelles Verfahren wie etwa „Männer in Frauenkleidern“, sondern sie sehe Cross-Dressing als die grundlegende Struktur für die Mode der Moderne. Vinken, die Romanische Philologie und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München lehrt, ist einer breiteren Öffentlichkeit durch ihre Forschungen zur Kulturtheorie der Mode bekannt.
„Seit mindestens 150 Jahren praktiziert die Mode ein Gegeneinanderführen von geschlechterpolitischen Stereotypen und sexuellen Begehrenslagen“, betonte Vinken zu Beginn ihres Vortrags. „Weiblichkeits- und Männlichkeitsklischees werden dabei nicht zementiert, sondern ironisch gegeneinander ausgespielt.“ Für dieses „Queering“ sei die Mode nicht nur geliebt und gefeiert, sondern etwa als „subversiv für eine Ordnung“ auch beschimpft, abgewiesen und verachtet worden.
Im „Queering“ der Mode werden die Marker von Geschlecht und Klasse nicht ad acta gelegt, um neue zu erfinden. „Sie werden aber neu zusammengesetzt und überkreuz zitiert; darin liegt ihr Witz“, so Vinken. „Ihr Raum ist das Dazwischen, die verunsichernde Dissonanz.“ Dieses Verrücken, Entstellen, Überhöhen und Übertreiben von Mann- und Frau-Sein diene einer auf die Spitze getriebenen Erotisierung, einem Mehr an Reiz. „Mit dem 20. Jahrhundert ist Cross-Dressing zur modischen Norm geworden: Wir alle sind Cross-Dresser.“
Vinken vertritt die These, dass die Geschichte der Mode der Moderne gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit der Französischen Revolution beginnt. Bis zur Revolution sei die Differenz der Stände die bestimmende Opposition der Mode gewesen: „Kleiderordnungen trennten die Adeligen und den Klerus vom dritten Stand, den dritten Stand von den Bauern.“ Nach der Revolution wurde die Ständegesellschaft in eine Klassengesellschaft überführt mit der Konsequenz, dass auch die Mode weniger die Stände oder Klassen als vielmehr die Geschlechter unterschied: „Die Differenz männlich/weiblich bekam eine Bedeutung, die sie in dieser Absolutheit bisher nicht hatte.“ Männer und Frauen zogen sich nach der Revolution nicht nur verschieden an („sie Röcke, er Hosen“), sondern sie zogen sich – und das sei neu gewesen – in Bezug auf ihr Geschlecht anders an. „Männlich heißt seit der Revolution unmarkiert neutral; weiblich heißt markiert. Die Frauen wurden nicht nur das schöne, sondern auch das modische Geschlecht“, so Vinken.
Im Gegensatz zur genderneutralen Kleidung der Männer nach der Revolution galt davor vielmehr die prunkvolle Zurschaustellung der Männlichkeit: „Für die vorrevolutionären Männer waren nicht nur die Beine Vorzeigeobjekte; auch das nützlichste Glied der menschlichen Gesellschaft verstanden sie hervorragend zu inszenieren.“ Die in der Mode der Moderne sichtbare Geschlechterordnung brachte Vinken wie folgt auf den Punkt: „In der Mode nach der Revolution, der bürgerlichen Mode, steht männlicher Geist gegen weibliches Fleisch, oberflächliches weibliches Kleid gegen tiefen männlichen Charakter, Sein gegen Schein.“
Die Mode des 20. und 21. Jahrhunderts jedoch zersetze die bürgerliche Geschlechter- und Kleiderordnung, die sie voraussetzt, auf der sie spielt, mit viel Witz. Mode zeige durch Travestie, dass Gender eine Rolle ist. Mode schaffe die Konventionen, die das Weibliche und das Männliche ausmachen, und mache sie gleichzeitig als konstruierte und nicht als natürlich authentische lesbar. Sie führe vor, dass männlich/weiblich keine biologische Konstante ist, die identisch ausgedrückt werden könnte. Mode zersetze damit das Fundament der nach-revolutionären bürgerlichen Gesellschaft: „Dafür ist sie nicht nur mit den Sitten, sondern oft mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Die Geschlechterordnung dieser unserer Gesellschaften ist so wenig universell wie natürlich.“
Vinken bekräftigte ihren Widerspruch zu der Vorstellung, dass es so etwas wie genderneutrale Mode gebe oder die Entwicklung in diese Richtung gehe. Vielmehr entsprechen Kleider, die in diesem Sinne alle Körperformen neutralisieren, genau dem männlichen Prinzip der Mode in der Moderne: „Der bürgerliche, männliche Körper stellt sich nicht zur Schau, er wird zugunsten der Persönlichkeit neutralisiert.“ Inbegriff dieses neuen, unmarkiert Männlichen sei der klassische, von Nietzsche gefeierte Anzug, der den von Nietzsche so bezeichneten „Geistesmenschen“, den fortschrittlichen Europäer, kleide, indem er aller ostentativen Zurschaustellung prächtiger Geschlechtlichkeit entsage. Noch ein weiteres Theorem der Modediskussion stellte Vinken zur Disposition: „Ich widerspreche der Behauptung, dass die Männermode des 19. Jahrhunderts bis in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts sich strukturell nicht von der Frauenmode unterscheide, auch Männer das Privileg des Modischen gehabt hätten. Das erscheint mir falsch, weil auf modischen Männern mit Anbruch des 19. Jahrhunderts der Schatten des Weibischen lag.“
Im Folgenden ging Vinken auf Beispiele ein, wie die weibliche Mode im Mainstream versuchte, das Stigma der Weiblichkeit abzuwerfen: „Dies tat sie, indem sie sich männliche Kleider aneignete. Der dazugehörige Modetypus war die garçonne. Die ‚neue Frau‘ trug Bubikopf, Hosen und hatte wie die Jungs eine Zigarette im Mundwinkel.“ Diese Geschichte der weiblichen Mode erzähle die Erfolgsgeschichte einer Subjektwerdung nach männlichem Muster; ihr gehe es um Emanzipation und Geschlechtergleichheit.
Als gelungene Übertragung des Anzugs in die Damenmode nannte Vinken das Chanel-Kostüm und das kleine Schwarze. „Tatsächlich emanzipieren sich die Frauen also in diesem Cross-Dressing nicht zu genderneutralen grauen Menschen, sondern zu phallischer Zurschaustellung eines herrlichen Körpers, der jetzt eben weiblich ist“, betonte sie. Beispielhaft für diese Form der Erotisierung sei etwa die Crêpe-de-Chine-Bluse unter dem Smoking von Yves Saint Laurent, die den Busen durchschimmern lässt. Weiterhin nannte Vinken den 2022 von Miu Miu präsentierten Mikro-Minirock als „sagenhaft erfolgreiches, sofort ausverkauftes Tribut an diese Geschichte der weiblichen, rebellischen Befreiung von aller Schamhaftigkeit zur völligen Beinfreiheit.“
In der Männermode gehe es nun seit etwa 40 Jahren darum, das Privileg oder die Bürde der Weiblichkeit, der markierten Sexualität, für Männer zurückzuerobern. Dies geschah durch die Dekonstruktion der Ideologie des Anzugs, der männlich-neutralen Norm, wie es zum Beispiel die Dandys oder Modemarken wie Gucci oder Vuitton präsentierten. Farben, Muster, Samt und Seide: All das spiele für den Anzug wieder eine Rolle. Vinken schloss mit einem Blick in die Zukunft: „Die Mode kann aus ihrem jahrhundertealten Kreuz und Quer, ihrem Queering, mit dem gewissen Etwas für die Zukunft schöpfen.“
Dialog im Museum
12. Oktober 2023
Mercedes-Benz Museum
70372 Stuttgart
Referentin:
Prof. Dr. Barbara Vinken
Universität München