Puzzle des Lebens? Wie der Bau künstlicher Zellen unser Leben verändern wird
Kerstin Göpfrich
„Es war kurz vor der Adventszeit und ich war etwa sechs Jahre alt. Ich kam von der Schule nach Hause und meine Mutter hat mir gebeichtet, dass es das Christkind nicht gibt. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen!“ Mit dieser biografischen Anekdote eröffnete Kerstin Göpfrich ihren Vortrag im Mercedes-Benz Museum, in welchem sie das Publikum auf eine faszinierende Reise in die synthetische Biologie mitnahm. „Etwas später habe ich dann verstanden, dass es vielleicht andere Fragen gibt, die genauso magisch sind wie die Frage nach dem Christkind. Eine dieser Fragen lautet: Was ist Leben? Und: Lässt sich Leben künstlich herstellen?“
Diesen Fragen widmet Göpfrich ihre wissenschaftliche Arbeit. Seit November 2022 hat sie eine Professur am Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg inne und leitet eine Forschungsgruppe am Heidelberger Max-Planck-Institut für medizinische Forschung. Für ihre Untersuchungen zur Evolution von künstlichen Zellen wurde sie 2022 mit dem renommierten Starting Grant des Europäischen Forschungsrats ausgezeichnet. Darüber hinaus engagiert sie sich in der Wissenschaftsvermittlung sowohl in den klassischen Printmedien, in Rundfunk und Fernsehen als auch in den sozialen Medien.
Zu Beginn ihres Vortrags erläuterte Göpfrich zwei Methoden, der sich die synthetische Biologie bedient, um künstliche Zellen herzustellen. Mittels des sogenannten Top-down-Ansatzes verändere man eine lebendige bzw. natürliche Zelle etwa mit Methoden der genetischen Manipulation, um dann Zellen mit den jeweils gewünschten Eigenschaften zu erzeugen. Berühmt für diesen Ansatz seien etwa die Arbeiten des US-amerikanischen Biochemikers Craig Venter. „Beim Top-down-Ansatz ist es immer noch so, dass eine künstliche Zelle durch Zellteilung aus einer natürlichen Zelle hervorgeht“, so Göpfrich. Beim Bottom-up-Ansatz hingegen versuche man, einzelne Moleküle so zusammenzufügen, dass man künstliche Zellen mit den Eigenschaften von Leben von Grund auf neu aufbaut. „Das ist die Art von künstlichen Zellen, die es bis heute noch nicht gibt“, betonte sie. „Irgendwann muss Leben aber einmal aus Materie entstanden sein. Mit dem ‚Urknall des Lebens‘ müssen sich Moleküle irgendwann einmal so zusammengefunden haben, dass eine Zelle mit der Fähigkeit zu Selbstreplikation und Evolution entstanden ist. Genau diese Art von künstlichen Zellen versuchen wir, im Labor nachzubauen.“ Das Ziel sei also die Bottom-up-Konstruktion eines lebendigen Modellsystems mit der Fähigkeit zu Selbstreplikation und Evolution mit unserer eigenen molekularen Maschinerie.
Göpfrichs Forschung konzentriert sich dabei auf den Bau einer künstlichen Zelle mit einer eigenen molekularen Hardware, um ein funktionales zelluläres Modellsystem zu erhalten: „Wir gehen nicht vor wie ein Archäologe, der versucht, die vorhandenen Puzzlestücke zusammenzusetzen, sondern wir suchen nach Werkzeugen und Materialien, die wir verwenden können, um unseren Fokus auf Funktion zu richten, um etwas de novo nachzubauen, was dieselbe Funktion hat wie Leben, wie wir es kennen.“
Dabei komme die Mikrofluidik als Werkzeug zum Einsatz, mit der man auf Chips kleine, etwa der Dicke eines menschlichen Haars entsprechende Kanäle herstellt. Man könne Zellhüllen in einer Lösung durch diese kleinen Kanäle schicken, Komponenten in diese künstlichen Zellkompartimente einbringen und so eine Art Zellzyklus nachahmen. Um das in der synthetischen Biologie vorhandene „ship in a bottle“-Problem zu lösen, komme der 3D-Druck als weiteres Werkzeug zum Einsatz. „Sobald wir eine Zellhülle haben – das sogenannte Lipidvesikel –, ist es sehr schwer, Komponenten darin in Raum und Zeit zu positionieren. Licht kann aber sehr wohl durch die Hülle des Kompartiments in das Innere des Kompartiments eindringen“, erläuterte Göpfrich ihren Ansatz, im Innern von künstlichen Zellvesikeln mittels Laserlicht zu drucken. Dabei gehe es nicht nur um Struktur, sondern auch um Funktion. So könne man beispielsweise kleine Kanäle drucken, die den Austausch von Information und von Stoffen zwischen Vesikeln und ihrer Umgebung ermöglichen.
Im Zusammenhang mit den Materialien, die zum Bau einer künstlichen Zelle verwendet werden, verwies Göpfrich auf die Proteine, die zwar die Maschinerie und Dynamik einer natürlichen Zelle ermöglichen, aber ein großes Problem haben: „Proteine können sich leider nicht vervielfältigen. Wenn man eine künstliche, auf Proteinen basierende Zelle bauen würde, dann hätte sie nicht die Fähigkeit zur Selbstreplikation. Doch Leben bedeutet Vervielfältigung.“ Die Natur löse dieses Problem mittels der Informationsübertragung, die bei der DNA (deoxyribonucleic acid) als Erbinformationsspeicher startet, diese in RNA (ribonucleic acid) übersetzt und die RNA wiederum in Proteine übersetzt. „Das nennen wir das Zentrale Dogma der Molekularbiologie. Jede Form von Leben auf unserem Planeten, die wir kennen, kann Proteine nicht vervielfältigen, sondern braucht diesen Fluss von Information zu Funktion“, betonte Göpfrich.
Eine andere Variante, Leben von Grund auf neu aufzubauen, wäre etwa die Suche nach Molekülen, die einfacher sind und die die inhärente Fähigkeit haben, sich selbst zu kopieren: „Ja, die gibt es: DNA und RNA.“ Das wissenschaftliche Feld, das diese Moleküle als Baumaterialien verwendet, ist die DNA/RNA-Nanotechnologie. Göpfrich stellte klar: „Hier geht es nicht um Genetik, denn die Erbinformation, die in dieser DNA steckt, ist uns erst einmal egal, sondern es geht um Baukunst in der Nanowelt.“ Um komplexe Strukturen wie etwa ein künstliches Zellskelett aus DNA bauen zu können, bediene man sich einer als DNA-Origami bezeichneten Technik, bei der DNA-Moleküle beliebig gefaltet werden und Formen erzeugen können.
Der Umgang mit diesen Technologien und auch die Teilung von DNA-gefüllten Vesikeln sei inzwischen gelungen. „Doch was noch fehlt zum Leben, ist die Kopplung von Teilung und Information, denn das ist das, was Evolution ermöglichen würde“, so Göpfrich. „Wir müssen unsere DNA-Strukturen, also die funktionale Hardware, genetisch codieren.“ Hier komme neben dem DNA- auch RNA-Origami zum Einsatz. So könne man diese Strukturen in DNA codieren und dann die Funktionen mit RNA-Origami ausführen. Wenn es gelinge, die Teilung von Vesikeln in DNA zu codieren, dann könne es auch gelingen, Evolutionsprozesse nutzbar zu machen, um die künstlichen Zellen zu verbessern. „Und das bringt uns unserem Ziel näher“, das Göpfrich abschließend nochmals präzisierte: „die Bottom-up-Konstruktion eines lebendigen Modellsystems mit der Fähigkeit zu Selbstreplikation und Evolution mit unserer eigenen molekularen Maschinerie, die wir aus DNA- und RNA-Origami nachbauen.“
Aber was ist das Ziel, das mit der Konstruktion einer Zelle verfolgt wird? Hier steht die Nutzung der phänomenalen medizinischen Chancen im Vordergrund. Allerdings sei es wichtig, gemeinsam mit Ethikern, Philosophen und auch mit der Öffentlichkeit über die Risiken zu sprechen, um Regularien wie etwa bei gentechnisch veränderten Organismen zu haben, die uns vor der unkontrollierten Ausbreitung dieser künstlichen Zellen schützen. „Tatsächlich sind unsere künstlichen Zellen – die es ja noch gar nicht gibt – so fragil, dass sie im Wettbewerb mit natürlichen Zellen – die basierend auf Proteinen viel schneller sein können – wahrscheinlich das Nachsehen haben werden“, vermutete Göpfrich. Zum Schluss wagte sie einen Ausblick in die Zukunft: „Ich würde diese Art von Forschung nicht machen, wenn ich nicht glauben würde, dass zumindest im Laufe meiner Karriere, die noch bevorsteht, es der Wissenschaft gelingen wird, Leben oder eine künstliche Zelle herzustellen.“