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Ausgrabungen in Mosul nach dem Bürgerkrieg – Archäologie als Mittel der Kulturpolitik

 

„Ninive, die untergegangene Hauptstadt des Assyrerreiches, geriet nie in Vergessenheit, denn ihr ist sowohl in der Bibel als auch im Koran ein Denkmal gesetzt“, eröffnete Prof. Dr. Stefan M. Maul seinen Vortrag. Maul ist Inhaber des Lehrstuhls für Assyriologie an der Universität Heidelberg und erforscht zurzeit mit einem Team von Assyriologen und Vorderasiatischen Archäologen die Hinterlassenschaften der vorislamischen Kulturen im völlig zerstörten Mosul. In unmittelbarer Nähe der nordirakischen, am Tigris gelegenen Stadt wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts das antike Ninive wiederentdeckt, die Hauptstadt des einst mächtigen assyrischen Weltreiches, die im 7. Jahrhundert v. Chr. von Babyloniern und Medern eingenommen und niedergebrannt wurde. Das riesige Stadtgebiet Ninives wurde dominiert von zwei Siedlungshügeln, heute benannt als Tell Kuyunjik und Tell Nebi Yunus, die mittlerweile innerhalb der Stadtgrenzen Mosuls liegen.

Im 19. Jahrhundert erkundeten britische Archäologen Tell Kuyunjik und machten dort spektakuläre, heute weltberühmte Funde wie riesige menschenköpfige Stierkolosse oder die Reste der Bibliothek von König Assurbanipal, die zu einem beachtlichen Teil in London und Paris aufbewahrt werden. Der zweite Hügel, Tell Nebi Yunus, blieb dagegen weitgehend unerforscht, denn weite Teile der assyrischen Zitadelle waren mit einer Moschee überbaut. Auf der Anlage der Moschee liegt auch das Grab des Propheten Jonas, ein für den Islam wichtigen Pilgerort. Einige Keilschrifttexte berichten davon, dass die letzten assyrischen Könige lange vor dem Bau der Moschee an eben dieser Stelle einen gewaltigen, prachtvoll ausgestatteten Palast errichtet hatten, in dem pompöse Militärparaden stattfanden. Den Beweis für dessen Existenz brachten vom irakischen Antikendienst Ende der 1980er-Jahre unternommene Sondagen.

Nach der Einnahme im Juni 2014 erklärten die Truppen des Islamischen Staates (IS) Mosul zu ihrer Hauptstadt und errichteten ein drei Jahre dauerndes Schreckensregime. Nur wenige Tage nach der Eroberung wurde mit der Vernichtung heiliger Pilgerstätten begonnen: Man sprengte die Jonas-Moschee auf Tell Nebi Yunus und vernichtete systematisch die vorislamischen Kulturzeugnisse der Assyrer.

Bereits im April 2018, kurz nach der Vertreibung des IS, war ein Heidelberger Archäologenteam unter der Leitung von Prof. Dr. Peter A. Miglus zur Stelle, um gemeinsam mit den Kollegen vor Ort eine erste Untersuchung der vom IS angelegten Tunnel vorzunehmen und die angerichteten Schäden zu dokumentieren. Mithilfe von GPS-gestützten fotogrammetrischen Aufnahmen und 3D-Rekonstruktionen der Stollen gelang es, in dem unübersichtlichen Tunnelgewirr nach und nach architektonische Strukturen des verschütteten assyrischen Palastes sichtbar zu machen. Es habe überhaupt kein Zweifel daran bestanden, dass hier der Militärpalast der letzten assyrischen Könige wiederentdeckt worden war. „Auch wenn es zynisch klingen mag, ergibt sich durch die barbarische Sprengung der Jonas-Moschee eine Chance für Archäologie und Altertumswissenschaften. Trotz der enormen Zerstörungen des IS ist hier dank der Methoden, die heute der Archäologie zur Verfügung stehen, ein Erkenntnisgewinn zu erwarten.“

Das im Sommer 2018 vom irakischen Antikendienst unterbreitete Angebot, der Universität Heidelberg eine Ausgrabungslizenz für das alte Ninive zu erteilen und dort in Kooperation mit Kollegen vor Ort umfangreiche archäologische Untersuchungen durchzuführen, beantwortete Maul „nach sehr gründlichem Nachdenken“ mit einem „klaren und festen ‚Ja!‘“, denn Ausgrabungen in der jetzigen Phase der Geschichte des Landes stellen weit mehr als lediglich ein altertumswissenschaftliches Forschungsvorhaben dar: „Im vollkommen zerstörten Mosul ist heute alles Altvertraute, sind alle geschichtsträchtigen und markanten Orte verschwunden, und der IS scheint seine geschichts- und gesichtslose Vision der Stadt letztendlich verwirklicht zu haben. Dem gilt es etwas entgegenzustellen.“

Die im Sommer 2019 aufgenommenen Arbeiten seien jedoch mit enormen Herausforderungen verbunden gewesen, so Maul, da man auf dem Gelände jederzeit mit Blindgängern rechnen musste und die Stollen nach den schweren Regenfällen der letzten Jahre einzustürzen drohten. Als Herzstück der Ausgrabungen wertet Maul den wiederentdeckten Thronsaal und dessen Ausstattung mit beschrifteten Steinplatten und monumentalen geflügelten Torstieren. „Der Thronsaal sollte vollständig freigelegt und vor Ort in behutsam rekonstruierter Form der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.“ Jedoch gab Maul zu bedenken, dass der irakische Antikendienst mit dem Vorhaben, an einem bedeutenden islamischen Pilgerort Hinterlassenschaften einer vorislamischen, ungläubig-heidnischen Kultur zu zeigen, auch heute noch bei Teilen der Bevölkerung von Mosul auf Vorbehalte stoßen könnte. Gespräche mit der irakischen Moscheenverwaltung zeigen jedoch, dass hier gute Lösungen gefunden werden können.

„Tell Nebi Yunus ist weit und breit der einzige Ort im Vorderen Orient, an dem die stolze altorientalische Kultur in organischer und positiver Weise mit dem Islam verknüpft werden kann. Das Zeigen von Bedeutung und Größe des alten Irak könnte, nachdem der IS nahezu alle entsprechenden Monumente in Mosul vernichtet hat, auch dem wiedererstehenden islamischen Irak zum Zeichen des Neuanfangs und des nationalen Stolzes werden“, erläuterte Maul seine Vision zu dem historischen Ort. Da der Prophet Jonas aber nicht nur im Islam, sondern auch im Juden- und Christentum verehrt werde, könnte Tell Nebi Yunus darüber hinaus zu einem Ort werden, der – nach all dem, was geschehen ist – die großen Religionen des Vorderen Orients wieder zusammenführt. Eine entsprechende Präsentation mit ihrer kulturübergreifenden, mit diversen Weltanschauungen kompatiblen Botschaft könnte von überregionaler Attraktivität sein und einen wichtigen Schritt hin zum Vorhaben des Irak darstellen, mittelfristig einen Antrag für die Aufnahme von Ninive in die Liste der UNESCO-Weltkulturerbestätten zu erarbeiten.

Referent
Prof. Dr. Stefan M. Maul studierte Assyriologie, Vorderasiatische Archäologie und Ägyptologie an der Universität Göttingen, wo er 1987 auch promoviert wurde. Seit 1995 ist er Professor für Assyriologie an der Universität Heidelberg. Für seine Forschungstätigkeit wurde Maul u. a. mit dem Leibniz-Forschungspreis ausgezeichnet. Er ist Mitglied in zahlreichen wissenschaftlichen Organisationen, so z. B. der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.
 

Dialog im Museum
23. November 2021
Mercedes-Benz Museum
70372 Stuttgart

Referent:
Prof. Dr. Stefan M. Maul
Universität Heidelberg